Atelier Ines Rosemarie Geister
Atelier Ines Rosemarie Geister

Zeit


Kurzgeschichte
Veröffenlicht im Vierländer Boten
Ausgabe: März 2006


Zeit


Die Ellbogen auf die Fensterbank gestützt sah Tina den tanzenden Schneeflocken zu, die in wildem Gestöber das Land mit einem weißen Flaum bedeckten.

„Mama, wollen wir nicht mal was spielen?“, fragte Tina, ohne sich zu ihrer Mutter umzudrehen.

„Etwas spielen?“, seufzte Monika. „Jetzt?“

„Hm, hm, ja.“ Tina drehte sich nun doch um und sah zu ihrer Mutter, die eifrig dabei war, einen riesigen Berg Wäsche zu bügeln.

„Du siehst doch, dass ich keine Zeit habe, Tina.“ Lächelnd sah Monika ihre Tochter einen Moment an, wischte sich eine störrische Haarlocke aus dem Gesicht und widmete sich wieder der Bluse vor sich.

„Was ist eigentlich Zeit?“

Monika stellte das Bügeleisen hochkant an die Seite des Bügelbrettes.
„Zeit? Das ist das, was uns allen durch die Finger rennt. Das, was wir alle nicht haben. Glauben wir zumindest. Warum fragst du?“

„Als ich Papa gefragt habe, wann er meinen Schlitten repariert, sagte er, wenn er Zeit hätte. Er konnte mir aber nicht sagen, wann das sein würde.“

„Naja, du weißt doch, dass Papa immer so viel zu tun hat. Schließlich muss er Geld verdienen, damit wir uns etwas zu Essen kaufen können. Wenn er abends müde nach Hause kommt, bleibt eben nicht mehr so viel Zeit.“

Tina drehte den Blick wieder aus dem Fenster.
„Mir ist langweilig.“

„Warum fragst du nicht Gitta ob sie etwas mit dir spielt?“

„Habe ich schon. Sie hat aber erst Zeit, wenn sie ihre Hausaufgaben fertig hat.“

„Dann vertreib dir doch bis dahin die Zeit, indem du dein Zimmer aufräumst“, schlug Monika ihrer Tochter vor.

„Ich soll mir die Zeit vertreiben?“, stutzte Tina. „Aber dann habe ich ja auch gar keine Zeit mehr, wenn ich sie vertreibe.“

Monika musste lachen. „Naja, so ist das nicht gemeint. Sich die Zeit vertreiben bedeutet so viel wie sie zu nutzen, sie mit Dingen zu füllen, die einem Spaß machen.“

„Ich habe aber keine Lust, mein Zimmer aufzuräumen“, gab Tina kleinlaut zu.

„Aber du würdest zumindest etwas Sinnvolles mit deiner Zeit anfangen, anstatt sie da am Fenster totzuschlagen.“

Jetzt war Tina entsetzt. Dadurch, dass sie den Schneeflocken zusah, schlug sie die Zeit tot? Das sollte mal einer verstehen.

Während Tina darüber nachdachte, was sie gegen das Totschlagen der Zeit tun könne, klingelte das Telefon im Flur.

Gedämpft hörte sie die Stimme ihrer Mutter. „Was? Walter? Wie konnte das denn so schnell passieren?“ Einen Moment war Stille, dann fuhr Monika fort. „Dabei hatte er seinen Ruhestand so herbeigesehnt. Er wollte doch die Zeit für seine vielen Hobbies nutzen. Ja, drei Monate war er jetzt in Rente. Da war ihm aber wirklich nicht viel Zeit geblieben.“

Tina entdeckte durch die Schneeflocken den roten Schal von Gitta. Dick eingemummelt stapfte ihre Freundin durch den Schnee und winkte Tina zu, als sie diese am Fenster erkannte.

„Gut, dass du endlich kommst“, begrüßte Tina ihre Freundin. „Dann kann ich endlich damit aufhören, die Zeit totzuschlagen“, informierte sie Gitta, während sie sich Schal und Jacke anzog.

„Du hast die Zeit totgeschlagen?“ Ungläubig sah Gitta Tina an.

„Ja. Nachdem ich mit meinen Hausaufgaben fertig war, habe ich mich gelangweilt, und meine Mutter meinte, ich solle die freie Zeit nutzen, um mein Zimmer aufzuräumen. Da ich dazu aber keine Lust hatte, meinte sie, ich würde die Zeit totschlagen.“

„Also hast du nun Zeit, oder nicht?“ Gitta verstand gar nichts mehr.

„Das weiß ich selber nicht so genau. Doch, eigentlich schon. Obwohl ...“

Tina drehte sich im Flur zu ihrer Mutter um, die noch immer telefonierte.

„Mama? Ich gehe jetzt mit Gitta zum Rodeln.“

Monika sah die Mädchen an. „Ich dachte, du wolltest dein Zimmer aufräumen?“

„Ach Mama, das kann ich jetzt gar nicht. Ich habe doch die ganze Zeit totgeschlagen und gar keine mehr übrig.“

Mit diesen Worten drehten sich die Mädchen um und stürmten nach draußen, wo die tanzenden Schneeflocken in wildem Gestöber das Land mit einem weißen Flaum bedeckten.

© Ines Geister, 2006