Atelier Ines Rosemarie Geister
Atelier Ines Rosemarie Geister
Veröffentlicht bei Schreib-Lust im November 2007

Das Rosenhaus



„Hier muss es irgendwo sein.“ Tinas Stimme klang aufgeregt. Sie starrte, mit dem Anzeigenteil der Tageszeitung auf den Knien, nach vorne durch die Windschutzscheibe.

„Hoffentlich“, stöhnte Klaus. „Ich habe nämlich eigentlich weder Lust, meinen freien Tag im Auto zu verbringen, noch ein altes Haus anzugucken. Was genau stand da noch einmal in der Beschreibung?“

„Verwunschenes Landhaus mit großem, naturnahen Garten am Ortsrand von Waldheim zu verkaufen.“

„Das kann ja sonst wo sein.“ Klaus hielt den Wagen am Straßenrand neben einer Frau mit buntem Küchenkittel und rot-blau-gemusterten Kopftuch, die mit einem Besen, der aussah, als wäre er ein Überbleibsel aus dem letzten Krieg, den Fußweg fegte. „Frag mal die Bäuerin hier. So alt, wie die aussieht, weiß die garantiert, wo das ist.“

Tina kurbelte die Scheibe runter und die Frau hielt inne.

„Guten Tag. Wir suchen ...“, Tina hielt die Zeitung hoch und las vor, während sie mit dem Finger über die Zeilen fuhr, so dass die Alte den Text mitlesen konnte. „... ein verwunschenes Landhaus mit großem, naturnahen Garten am Ortsrand von Waldheim. Können Sie mit der Beschreibung etwas anfangen? Wissen Sie, welches Haus damit gemeint sein könnte?“

Erwartungsvoll sahen Tina und Klaus die Frau an.

„Ein verwunschenes Haus mit großem Garten?“ Die Alte überlegte einen Moment. „Da fällt mir nur das alte Rosenhaus ein. Das ist da hinten links den Weg lang bis zum Wald. Das hat einen großen verwilderten Garten. Wenn das naturnah ist? Aber dort ...“.

„Danke“, rief Klaus und würgte die Alte ab, indem er aufs Gaspedal trat.

Sie sah dem Wagen hinterher, schüttelte den Kopf und widmete sich wieder dem Fegen des Fußweges.

„Bist du total übergeschnappt?“, fauchte Tina Klaus an. „Du kannst die Frau doch nicht einfach so abservieren.“

„Reg dich mal nicht auf. Es war doch zu erkennen, dass sie gerade anfing, in Erinnerungen zu kramen, und wenn so alte Schachteln erstmal ins Erzählen kommen, dann kann das dauern. Ich gucke mir das Haus nur an, weil du da unbedingt hin willst. Wir werden das sowieso nicht kaufen. So weit ab vom Schuss. Wer will da schon wohnen?“

Tina spürte, wie ihr die Tränen in die Augen schossen. „Ich fände es toll, so ein altes Bauernhaus zu haben und wenn dann noch ein schöner verwilderter Garten dabei ist, um so besser. Das finde ich total romantisch.“

„Romantisch?“, schnaufte Klaus und bog in den besagten Weg ein. „Blödsinn. Das hört sich doch nur nach viel Arbeit an.“

Der mit Schlaglöchern übersäte Weg führte sie einige Minuten vom Dorf weg. Klaus wollte gerade anhalten und umdrehen, als ihr Blick auf ein Haus fiel, das bis unters Dach mit Kletterrosen und Efeu bewachsen war.

„Das muss es sein.“ Tina sah mit verzaubertem Blick auf das Anwesen, das von einer mindestens drei Meter hohen Rosenhecke, die in voller Blüte stand, umrahmt war.

„Das denke ich auch.“ Klaus hielt einige Meter von dem Grundstück entfernt an.

Ehrfürchtig auf das Haus und den Garten schauend stiegen sie aus. Der Duft von Rosen umfing sie, als sie sich näherten, und selbst Klaus sog tief die Luft ein und stieß sie sinnlich wieder aus, während er sein hellblaues Jackett anzog.

„Das müssen Hunderte von Rosen sein“, entwich es Tina, die durch eine verwitterte Holzpforte in den Garten lugte. „Oh, ist das schön.“

„Ja, ja, sieht toll aus“, knurrte Klaus.

„Los, klingle mal“, drängte Tina und wandte sich dem Haus zu. Eilig versuchte sie, ihr zerknittertes zitronengelbes Kostüm glattzustreifen.

Mit großen Schritten lief Klaus die drei Stufen zur Tür hinauf und suchte nach dem Klingelknopf. „Es gibt hier keine Klingel. Nur diesen Klopfer aus Gusseisen.“

„Ist das da eine Rosenblüte auf dem Klopfer?“ Tina war überwältigt von dem ersten Eindruck, den Haus und Grundstück auf sie ausübten.

„Sieht so aus“, sagte Klaus und bewegte das schwere Metallstück dreimal gegen die massive Holztür.

Tock, tock, tock.

Sie warteten und lauschten, ob sie Geräusche hörten. Aber als nach einigen Minuten die Tür immer noch nicht geöffnet wurde, versuchte es Klaus noch einmal, während Tina ums Haus herum schlenderte und den Garten näher in Augenschein nahm.

Sie schlich um die Hausecke, und als würde sie eine andere Welt betreten, schlug ihr sofort ein intensiver Blütenduft entgegen. Für einen Moment schloss sie die Augen und genoss die Gerüche der Blumen und das Singen der Vögel, das Zirpen der Grillen und das Summen der Bienen und Hummeln. Als sie die Augen wieder öffnete, ließ sie ihren Blick durch den Garten schweifen. Rosenstock an Rosenstock und alle in voller Blüte lockten sie in die Mitte des Paradieses, wo sie auf einen von Schilf und Pfeifenputzern umwachsenen Weiher stieß. Weiße und rosa Seerosen streckten ihre Blätter und Blütenköpfe durch die Wasseroberfläche. Libellen surrten von Blüte zu Blüte und so mancher Laubfrosch unterbrach sein Quaken, um sich die eine oder andere vorbeifliegende Mücke zu genehmigen.

Wie von einem unsichtbaren Band gezogen, ging sie weiter, als sie von Klaus eingeholt wurde.

„Es scheint niemand da zu sein“, sagte er und beugte sich zu einer dunkelroten Rose, um daran zu schnuppern. „Sind das alles Duftrosen?“, fragte er und ging zur nächsten Rose, die in zartem Rosa mit ihrem Charme warb. Tina lächelte über sein frisch erwachtes Interesse und ging derweil um den Weiher herum, um den ein Pfad aus Rindenmulch führte, der die Schritte weich abfederte.

Fasziniert beobachtete sie eine Froschfamilie, die es sich auf den Blättern einer Seerose in der Sonne bequem gemacht hatte, als Tina sich ganz plötzlich unwohl fühlte. Sie hatte das Gefühl, als würde sie beobachtet. Erschrocken hob sie den Blick und sah sich um. Aber da war niemand. Weit hinter sich schimmerte das blaue Jackett von Klaus durch die Blätter. Er schien nichts bemerkt zu haben. Sie drehte sich wieder den Fröschen zu, als sie das tiefe Bedürfnis verspürte, am Haus hochzuschauen. Hinter einem der Fenster im zweiten Stock sah sie ein Gesicht, das sie anstarrte und das in dem Moment, in dem sie es erblickte, zur Seite verschwand.

„Klaus?“, rief sie. „Es ist doch jemand zu Hause.“

Aber Klaus hörte sie scheinbar nicht, denn es kam keine Antwort. Nur schemenhaft erkannte sie durch das Blätterwerk einzelner Flieder- und Forsythiensträucher, dass er immer noch von Rose zu Rose wanderte und an jeder einzelnen zu riechen schien.

Es wurde kühl, und zitternd schlang Tina sich die Arme um den Körper. Bei jedem Ausatmen bildete sich eine kleine Wolke vor ihrem Mund, und sie bekam Angst. Immerhin waren sie mitten im September. Sie spürte, dass sich etwas verändert hatte. Eine Bedrohung war plötzlich präsent und sie wirbelte herum, um erneut zum Haus zu sehen. Irgendetwas war da, das spürte sie ganz genau.

„Hallo?“, rief sie, wobei ihre Stimme dünn und brüchig klang. „Ist da jemand?“

Sie streckte sich, als könne sie dadurch weiter sehen, aber der Garten lag noch immer friedlich vor ihr.

Friedlich? Sie stutzte und lauschte. Zu friedlich für ihren Geschmack. „Die Vögel singen nicht mehr“, stellte sie erstaunt fest. „Und die Insekten? Wo sind die geblieben?“ Sie suchte die Wasseroberfläche ab, wo sich immer irgendwelche Insekten aufhielten, aber keine einzige Fliege war zu sehen. Und auch die Frösche waren verschwunden.

Tina fürchtete sich. Irgendetwas stimmte hier nicht.

„Klaus? Kommst du? Ich würde gerne gehen.“ Sie drehte sich um und ließ ihren Blick durch die Pflanzen wandern, auf der Suche nach dem hellblauen Jackett.

Tina schluckte trocken, denn sie konnte es nirgendwo entdecken. Die Angst schnürte ihr die Kehle zu, und sie nahm allen Mut zusammen, um tiefer in den Garten zu gehen und Klaus zu suchen. Es wurde immer kälter und ihre Finger immer steifer, so dass sie die Hände unter die Achselhöhlen klemmte, um sie zu wärmen. Ihr Atem ging stoßweise, als sie durch die Rosen hetzte. Wo war Klaus geblieben?

„Klaus!“, rief sie wieder und wieder, aber er antwortete nicht.

Irgendjemand oder irgendetwas verfolgte sie. Sie spürte die Anwesenheit von etwas Unheimlichen. Sie mussten raus aus diesem Garten. Sie hatten nicht das Recht, hier zu sein. Es war ein Fehler gewesen, hierher zu kommen. Ein fremdes Grundstück zu betreten, noch dazu ohne die Genehmigung des Besitzers, war nicht gut. Wenn sie Klaus jetzt nicht gleich fand und sie den Garten so schnell wie möglich verließen, dann, das wusste sie instinktiv, würden sie nicht überleben.

Sie rannte. Sie weinte vor Angst, und die Schminke zog lange dunkle Streifen über ihre Wangen. Die Nase lief ihr und sie suchte verzweifelt nach einem Taschentuch. Trotz all der Panik fiel ihr ein, dass sie ihre Handtasche, im Auto liegengelassen hatte.

Sie schien sich dem Ende des Grundstücks zu nähern, denn der Weg machte einen Knick nach rechts. Ohne nachzudenken preschte sie um die Ecke und blieb im nächsten Augenblick abrupt stehen. Vor ihr stand eine Rose, die, so schien es, gerade erst ihre zahlreichen Blüten geöffnet hatte. Keine einzige war verwelkt. Das Seltsame an der Rose aber, das sie zu dem abrupten Stehenbleiben veranlasst hatte, war die Farbe der Blüten. So etwas war ihr noch nie untergekommen. Sie strahlten in einem frischen, hellen Blau. Genau das Blau, das auch das Jackett von Klaus hatte.

„Ach, was für eine prachtvolle Züchtung haben wir denn hier?“, sagte eine Stimme hinter ihr, und Tina wirbelte herum. Ein Mann, der Mitte dreißig sein musste, stand, nein, schwebte vor ihr, denn Tina konnte keine Füße sehen. „Zitronengelb habe ich noch nicht. Das passt hervorragend neben das hübsche, frische Blau, meinst du nicht?“

Verwunschenes Landhaus mit naturnahem Garten ging es Tina noch durch den Kopf, und es gelang ihr nicht einmal mehr, zu schreien, als der Mann sich auf sie warf.